Stand: 29.06.2022 10:22 Uhr
130 Menschen starben bei den Terroranschlägen von Paris im Herbst 2015. Heute fallen die Urteile gegen 20 Angeklagte. Christophe Naudin ist einer der Überlebenden und Nebenkläger. Wie hat er den Prozess erlebt – und was erwartet er heute?
„Ich hoffe, dass es gut geht und schnell vorbei ist“, sagt Christophe Naudin. Nervös reibt er die Hände an seiner schwarzen Jeans: „Ich habe wirklich Angst, dass es lange und stressig wird. Das will ich nicht.“ Er frage sich, was er danach machen werde. „Ich werde sicher mit anderen Überlebenden was trinken gehen. Aber dann? Ich weiß es nicht“, sagt Naudin. Die meisten der mehr als 140 Prozesstage hat er im Gericht verbracht, selbst auch ausgesagt.
Naudin hat Angst vor der Leere – einer Leere, die er kennt aus der Zeit nach den Anschlägen. Am 13. November 2015 war er im Pariser Konzertsaal Bataclan, als die Terroristen ihr Massaker anrichteten, dort 90 Menschen töteten, darunter auch seinen Freund Vincent. Weitere Menschen starben bei zeitgleichen Anschlägen auf Cafés und Restaurants in der Nachbarschaft.
Urteil im Prozess um Bataclan-Anschlag erwartet
Friederike Hofmann, ARD Paris, tagesschau 20:00 Uhr, 29.6.2022
Prozess hilfreich in schwierigen Momenten
Naudin überlebte. Und auch wenn er ruhig und fast schon abgeklärt wirkt, sagt er, lebe er mit dem Trauma. Der Prozess sei eine Art Routine für ihn gewesen, die wichtig war und ihm nach dem Urteil fehlen werde.
Ich war viel da, habe immer in etwa am gleichen Platz gesessen. Ich habe viel mit anderen Überlebenden gesprochen, diskutiert – auch mit Anwälten und Journalisten. Das hat geholfen, vor allem in den schwierigen Momenten.
Aussage vor Gericht
Vor allem zu Beginn war der Lehrer fast täglich im Prozess. In der Schule konnte er sich dafür freistellen lassen. Er hat selbst ausgesagt, hat erzählt von der Nacht, die sein Leben in seinen Grundfesten erschüttert hat.
Wie mehr als 300 andere Überlebende und Hinterbliebene stand Naudin im Gerichtssaal, vor ihm die Richter, links von ihm die 14 anwesenden Angeklagten, darunter auch Salah Abdeslam, der einzige noch Lebende des Terrorkommandos vom 13. November 2015. „Ich glaube, ich habe ihn mal kurz angeschaut, als ich gesagt habe, er werde auf dem Müllhaufen der Geschichte landen.“ Er sei aber nicht beim Prozess gewesen, um über Abdeslam zu sprechen.
Ich wollte über das sprechen, was die Anschläge mit mir und meinen Angehörigen gemacht haben. Die Angeklagten dabei anzuschauen, das hätte ihnen eine Bedeutung gegeben, die sie nicht verdient haben.
„Spielchen gespielt – und am Ende hat er nichts gesagt“
Er habe nichts von den Angeklagten erwartet, erst recht nicht von Abdeslam. Dass der Hauptangeklagte geredet hat, sich am Ende auch bei den Opfern und Hinterbliebenen entschuldigt hat – für Christophe ist das fast schon Hohn.
„Ich glaube nichts von dem, was er erzählt hat.“ Zu Prozessbeginn habe Abdeslam gesagt, er sei Kämpfer des „Islamischen Staates“. Im Laufe des Prozesses, sei er durch die Zeugenaussagen vielleicht wirklich mal zusammengebrochen und habe gesagt, „er habe seinen Sprengstoffgürtel aus Menschlichkeit nicht gezündet. Nein, wenn überhaupt, dann weil er Angst hatte. Er hat Spielchen gespielt und am Ende hat er nichts gesagt.“
Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haftstrafe
Zu den essentiellen Fragen habe Abdeslam geschwiegen, keine neuen Informationen zu den Hintermännern, zur Organisation oder Finanzierung der Anschläge geliefert. Auch deswegen spricht die Staatsanwaltschaft von besonderer Schwere der Schuld, fordert lebenslängliche Haft mit unbegrenzter Sicherungsverwahrung für Abdeslam.
Eine Strafe, die für den Bataclan-Überlebenden Naudin – trotz allem, was er erlebt hat – extrem hart ist. „Ich bin gegen die Todesstrafe und unbegrenzte Sicherungsverwahrung heißt, dass er das Gefängnis nie wieder lebend verlassen wird. Das ist so hoffnungslos und vielleicht auch einfach nicht zielführend. Auch wenn ich keinerlei Sympathien für ihn hege.“
Das Urteil gegen Abdeslam und die 19 Mitangeklagten hat für Christophe Naudin wenig Bedeutung. Es ist die Aufgabe der Justiz, es zu fällen, der Rechtsstaat macht seine Arbeit. Und auch wenn der Prozess Opfern wie ihm viel Raum gegeben habe, sagt Naudin, bleibe es seine Aufgabe, die Angeklagten für ihre Taten zu verurteilen und nicht die Opfer zu therapieren.
Der Prozess endet – bleibt ein Trauma? Ein Bataclan-Überlebender erzählt
Sabine Wachs, ARD Paris, 28.6.2022 · 22:17 Uhr
Quelle: Tagesschau