Reportage
Stand: 27.05.2022 14:50 Uhr
Das Geburtszentrum von Pokrowsk in der Donezker Oblast ist für Schwangere aus der Region die letztmögliche Anlaufstation. Hier entbinden Frauen – mit knapper Versorgung und in ständiger Angst vor Raketeneinschlägen.
Leichten Schrittes nimmt Iwan Tsyhanok die Stufen, doch es ist ein schwerer Gang. Von seinem Büro ins Herz des Zentrums für Gynäkologie, Geburtshilfe und Betreuung von Frühgeborenen des Krankenhauses in Pokrowsk. „Der Krieg beeinflusst alles sehr, denn die Menschen sind weggegangen. Und was ihren seelisch-emotionalen Zustand betrifft: Sie haben Angst“, sagt er. „Wir versuchen alle Schwangeren zu motivieren wegzufahren, denn die Front ist nah. Wir hoffen auf unsere Armee, aber es kann einfach alles passieren.“
Im Stockwerk höher angelangt begrüßt ein großer, freundlich wirkender Gynäkologe mit kahlrasiertem Kopf eine hochschwangere Frau. Sie trägt einen bunten Morgenmantel über dem runden Bauch; für die anstehende Geburt ihres vierten Kindes steht ihr ein komplizierter Kaiserschnitt bevor. Für die Entbindung kam sie früher als eigentlich nötig aus ihrem umkämpften Dorf nahe der Stadt Kramatorsk. Ihr Mann und drei Kinder seien dort, sagt sie leise: „Es wird viel geschossen und die Kinder rufen immer an und erzählen von Flugzeugen, Raketen und Explosionen. Gebe Gott, dass alles gut wird.“
Ein leeres Zimmer in der Abteilung für Gynokologie und Geburtshilfe im Krankenhaus Pokrowsk.
Bild: Andrea Beer
„Wir können auch im Keller operieren“
Die Schwangere habe schon 2014 aus Horliwka bei Donezk fliehen müssen und sei nun zum zweiten Mal zur Flucht gezwungen gewesen, ergänzt Iwan Tsyhanok behutsam – die blasse Frau nickt. Damals besetzten kremltreue Separatisten einen Teil des Donbas rund um die Städte Donezk und Luhansk.
Hinter müde wirkenden Schwangeren hängt ein großer selbstgemalter Storch mit einem Baby im Schnabel. Bunte Kinderzeichnungen und Babyfotos schmücken viele Wände der drei Abteilungen, doch es gibt auch schwarz-weiße Wegweiser in die Luftschutzräume.
„Die Stadt ist schon beschossen worden und einmal ist eine Rakete in der Gegend um das Krankenhaus eingeschlagen, während eine Frau gerade entbunden hat. Es gab eine Explosion“, erzählt Tsyhanok. „Sie können sich vorstellen, wie schrecklich das für uns und die Patientin war. Denn man weiß ja nicht, wo so eine Rakete runterkommt. Wir können auch im Keller operieren und entbinden und wir haben auch Sandsäcke vor den Fenstern.“
Iwan Tsyhanok, Leiter der Abteilung für Gynäkologie und Frühgeburten in der Geburtsklinik Pokrowsk.
Bild: Andrea Beer
„Alles überträgt sich auf die Babys“
Mehr als 130 Frauen haben in der Fachabteilung Platz, doch zurzeit sind Betten oder die zehn Brutkästen für Frühgeburten kaum belegt. Seit der russischen Invasion in die Ukraine wurden hier nur rund 80 Kinder geboren, bedauert Tsyhanok. In 32 Berufsjahren habe er schon mehr als 20.000 Kinder auf die Welt gebracht, erzählt er stolz: „Eine ganze Stadt.“
Auch auf der Station von Tatjana Miroschnitschenko herrscht gerade Leere. Die wenigen Frauen, die hier noch entbinden, sind deutlich gestresster als sonst, hat die Ärztin beobachtet. Und auch den Kindern ginge es nicht gut. „Alle sind sehr nervös und aufgeregt und die Kinder kommen nicht sehr gesund auf die Welt. Denn alles überträgt sich auf sie.“
Leerer Operationssaal in der Geburtsklinik.
Bild: Andrea Beer
In Pokrowsk und Umgebung leben rund 100.000 Menschen, doch laut Behörden ist nur ein Fünftel von ihnen noch da. Aus berechtigter Furcht vor der russischen Armee haben viele die Flucht ergriffen. Immer wieder schlagen Raketen ein. Auch viele Ärztinnen und Ärzte sind weg, Medikamente, OP- und Nähmaterial: Mangelware.
Iwan Tyhanoks Abteilung erhält deswegen unter anderem eine besondere Zuteilung der Stadt und humanitäre Hilfe. Im nicht besetzten Teil der Region Donezk seien sie die letzten, sagt er: „In Mariupol gibt es keine Geburtsklinik mehr, weil die Stadt zerstört worden ist. In Kramatorsk sind die Kriegshandlungen so schlimm, dass es dort auch nicht mehr geht. In der Region Donezk sind wir nun das einzige Frühgeborenen- und Geburtszentrum.“
Er geht die Treppen wieder hinunter zurück in sein Büro. „Ich fühle mich hier sicher“, hat eine Schwangere gerade zu ihm gesagt. „Ja“, war seine Antwort, „aber Sicherheit – das ist bei uns nur noch relativ“.
Quelle: Tagesschau