Stand: 20.04.2022 04:19 Uhr
Vor der zweiten Wahlrunde buhlen die Präsidentschaftskandidaten Macron und Le Pen vor allem um linke Wähler. Doch bei denen wächst der Frust auf das System: Viele wollen nur noch Dampf ablassen.
Emmanuel Macron und Marine Le Pen umkreisen sich wie zwei Judoka. Macht der eine einen Schritt vor, weicht der andere aus, nur um sein Gegenüber bei der nächsten Bewegung besser packen zu können. Noch sind sie sich nicht direkt begegnet. Das entscheidende TV-Duell steht erst heute bevor. Aber die Strategie ist klar: Macron und Le Pen setzen darauf, sich gegenseitig zu dämonisieren.
„Das wahre Gesicht der extremen Rechten kommt wieder zum Vorschein“, sagt der amtierende Präsident über seine Herausforderin: „Marine Le Pen respektiert unseren verfassungsrechtlichen Rahmen nicht, missachtet fundamentale Freiheiten stellt und Rechte in Frage, die unsere Gesellschaft hart und teuer erkämpft hat.“ Macron versucht auf diese Weise, den sogenannten republikanischen Wall gegen die Rechtspopulistin zu mobilisieren.
Le Pen geht ohne Verzug zum Gegenangriff über. „Wenn die Franzosen am 24. April gegen irgendetwas eine Wehrmauer aufbauen müssen, dann gegen die Wiederwahl Macrons!“, wettert sie. „Eine Wehrmauer gegen diese Kaste, die uns voller Arroganz regiert, diese Macht einiger weniger zugunsten einiger weniger.“
Macron gibt sich reformoffen
Zwischen den zwei lauernden, einander umkreisenden Kontrahenten: das Wahlvolk, das beide gleichermaßen umgarnen – vor allem die Linken. Ihre Stimmen müssen sie gewinnen, die knapp 22 Prozent, die im ersten Wahlgang den Linksaußen Jean-Luc Melenchon gewählt haben.
Dazu eilt Macron in eben jene Städte, wo Melenchon vorne lag, sucht die direkte Auseinandersetzung mit seinen Kritikern und hat für seine politischen Annäherungsversuche schnell eine geschmeidige Formel gefunden: „Anreichern und bereichern“ wolle er sein Programm. Zum Beispiel, indem er die Forderung der Linken aufgreift, das Verhältniswahlrecht in Frankreich einzuführen: „Ich bin eher dafür. Das ist eine gute Sache“, sagt er. „Diese Frage sollte in einer parteiübergreifenden Kommission über die Erneuerung unseres demokratischen Systems entschieden werden.“
Le Pen nutzt linke Vokabeln
Zurückgerudert ist er bereits bei seinem Plan, die Rente mit 65 einzuführen: das sei nicht in Stein gemeißelt, 64 gehe auch. Le Pen reagiert umgehend: „Ach was! Er wird das durchziehen, er ist davon besessen! Nichts anderes hat er im Sinn. Er ist ja untröstlich, dass er dieses Vorhaben in seiner ersten Amtszeit nicht umsetzen konnte.“
Le Pen hingegen sucht den Schulterschluss mit der linken Wählerschaft, indem sie sich erstens ihr Vokabular aneignet: Wehrmauer, System, Kaste. Und zweitens außenpolitische Brücken schlägt: raus aus der NATO-Kommandostruktur, Blockfreiheit, ein Sitz für Indien im UN-Sicherheitsrat – alles Ideen, mit denen sie bei Linken punkten könnte.
Frust bei den Wählern
Doch während Le Pen und Macron sich in ihrem Kreisel immer schneller drehen, wächst bei vielen gerade jungen Wählerinnen und Wählern der Frust.
„Wir haben ja zum dritten Mal seit 2002 die extreme Rechte in der Stichwahl. Gerade junge linke Wähler haben den Eindruck, dass sie ständig dasselbe erleben und ihnen die Wahl geraubt wird“, erklärt Politikwissenschaftler Vincent Tiberj. „Immer ein Übel wählen zu müssen, um ein noch schlimmeres Übel zu verhindern, das reicht diesen Wählern nicht mehr.“ Das Wahlsystem passe nicht mehr in einer Zeit, in der sich die klassische politische Frontstellung zwischen Links und Rechts auflöse – und fehle an Verhältnismäßigkeit.
Denn noch ist nicht sicher, wie sich die Wählerinnen und Wähler des linken Lagers in der Stichwahl entscheiden werden. Schwenken sie nach rechts außen zu Le Pen? Wählen sie mit der Faust in der Tasche Macron?
Dass ausgerechnet die Politik-Studierenden an der Sorbonne dazu aufrufen, „weder Le Pen noch Macron“ zu wählen, muss beunruhigen. Was passiert, wenn die linken Wähler zu Hause bleiben oder ungültig stimmen? Frankreich gleicht derzeit einem Schnellkochtopf: Die cocotte minute zischt gewaltig – und viele wollen jetzt Dampf ablassen. Keine gute Ausgangslage für eine so entscheidende Wahl.
Quelle: Tagesschau