Mit 2654 zu 2131 Stimmen hat es die Belegschaft des Amazon-Warenlagers „JFK8“ in Staten Island, New York, geschafft und den Weltkonzern vorerst besiegt: Erstmal kümmert sich eine Arbeitnehmervertretung um die Interessen der Angestellten.
Der Versandriese Amazon ist mit über einer Million Freigaben nach Walmart der zweitgrößte Arbeitgeber der Vereinigten Staaten. Für hohen Manager und besonders seinen Gründer Jeff Bezos zahlt sich das aus: Mit einem geschätzten Vermögen in Höhe von 189 Milliarden US-Dollar ist er der zweitreichste Mensch des Planeten. Auf einen Großteil seiner Mitarbeiter, besonders jene in den Logistikzentren, färbt dieser Wohlstand jedoch nicht ab: Niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und extrem kurze Pausen dominieren den Alltag in den üblichen Hallen. Jahrelang folgte Amazon einen erbitterten Kampf gegen die Gründung von Arbeitnehmervertretungen, die sich für bessere Bedingungen einsetzen wollten – bis zur historischen Wahl am ersten April, bei der Mitarbeitende sich erstmals für eine Arbeitnehmervertretung entschieden.
In Staten Island gelang es der Amazon Labour Union (ALU), die Betriebsangehörigen eines Amazon-Standortes von sich zu überzeugen und eine entsprechende Abstimmung zu gewinnen. Verhandlungen über Arbeitsbedingungen und Löhne laufen im Logistikzentrum „JFK8“ und werden somit zukünftig über die ALU gesammelt und sind nicht länger eine Sache zwischen einzelnen Personen und dem Management, wie es der Konzern eigentlich bevorzugt.
Amazon ist „enttäuscht“
Amazon veröffentlichte über die historische Abstimmung nur ein denkbar kurzes Statement. Im Unternehmensblog schreibt der Konzern: „Wir sind enttäuscht über den Ausgang der Wahl in Staten Island, weil wir glauben, dass eine direkte Beziehung zum Unternehmen das Beste für unsere Mitarbeiter ist.“ Das Ergebnis scheint man dort nicht akzeptieren zu wollen. So heißt es weiter: „Wir prüfen unsere Möglichkeiten, einschließlich der Einlegung von Einsprüchen aufgrund der unangemessenen und unzulässigen Beeinflussung durch das National Labor Relations Board, die wir und andere (einschließlich der National Retail Federation und der US Chamber of Commerce) bei dieser Wahl beobachtet haben.“
Amazons aggressive Haltung gegenüber Betriebsräten, Arbeitnehmervertretungen und Gewerkschaften ist nicht neu. Besonders in den USA begegnet das Unternehmen schon kleinsten Bemühungen um eine Vereinigung der Belegschaft mit entsprechenden Gegenmaßnahmen und investierten Millionen in diesen Kampf. Zuletzt scheiterte die US-Gewerkschaft „RWDSU“ mit einem Votum in Bessemer, Alabama mit 875 zu 993 Stimmen. Das Endergebnis ist allerdings nicht fix, denn nach Angaben der Gewerkschaft stehen noch 416 Stimmen zur Diskussion, deren Bewertung die Wahl entscheiden könnte. Der Fall liegt nun vor Gericht.

Eindeutiges Ergebnis für Staten Island
Zum Glück für die ALU-Gründer Chris Smalls und Derrick Palmer fällt die Abstimmung in Staten Island eindeutiger aus. Unter den rund 4800 Stimmen standen nur 67 zur Diskussion – zu wenig, um das Ergebnis anfechten zu können. Um die Stimmen der Prognose zu gewinnen, versorgte Palmer seine Kolleginnen und Kollegen im „JFK8“ Monat mit Informationen. Derweil befasste sich Chris Smalls in einer Bushaltestelle nahe des Warenhauses ein, wo er sterben Menschen über seine Arbeitnehmervertretung und deren Möglichkeiten in Kenntnis gesetzt und Besucher zeitweise mit Essen und Parties bei Laune hielt.
Smalls ist für Amazon Unbekannt keiner, war dem Konzern schon vor Gründung der Amazon Labor Union ein Dorn im Auge. 2015 begann er als sogenannter Picker, auch Warensammler, in einem Lagerhaus in Connecticut, wo er zunächst gefeuert und nach Einspruch erneut eingestellt wurde. 2018 wurde er nach „JFK8“ in Staten Island versetzt, wo er als Betriebsassistent gestartet und sich nach eigenen Angaben 49 Mal vergeblich auf einen Führungsposten bewarb.
Kündigung nach Protestmarsch
Der Streit mit seinem Arbeitgeber eskalierte, als er 2020 gegen die Einteilung eines Kollegen protestierte, der mit klaren Covid-19-Symptomen zur Arbeit erschienen war und während der Arbeit auf sein Testergebnis wartete. Nachdem die Personalabteilung seine Beschwerden nach eigenen Angaben ignorierte, organisierte Smalls eine Arbeitsniederlegung als Protest gegen die nach seiner Meinung viel zu lockeren Corona-Schutzmaßnahmen an seinem.
Noch am selben Tag wurde Smalls beseitigt, wogegen sogar eine New Yorker Staatsanwältin, der Bürgermeister der Stadt und Senator Bernie Sanders wetterten. Trotz mehrfacher Forderungen nach einer Wiedereinstellung kam es voraussichtlich zu keiner Weiterbeschäftigung von Smalls. Das mag auch daran gelegen haben, dass ihn sogar das höchste Management im Unternehmen diffamierte.
In einem Memo von Chefjustitiar David Zapolsky an den amerikanischen CEO Jeff Bezos wurde Smalls als „nicht klug oder wortgewandt“ bezeichnet. Die Idee, ihn zum Gesicht der Bewegung rund um die Bildung der Arbeitnehmervertretung zu machen, stammt sogar ursprünglich von Amazon – denn ihn fürchtete man nicht, wollte ihn und seine Bemühungen ins Lächerliche ziehen. Die amerikanische Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez bezeichnete dieses Memo später als „rassistische und klassenbezogene PR-Kampagne“.
Tarifverhandlungen ab Mai, Signalwirkung möglich
Sofern die amerikanische Arbeitsrechts-Behörde NLRB die Abstimmung zertifiziert, hat Chris Smalls in Zukunft eine ausreichende Gelegenheit, sich zu revanchieren. Schon ab Mai will die ALU mit Amazon in die Tarifhandlungen gehen. Im Namen der Angestellten will man dann bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne einfordern. Weitere Ziele für seine ALU hat er auch schon im Blick. Als nächstes möchte er das benachbarte Warenlager „LDJ5“ ins Visier nehmen und die dortige Belegschaft ebenfalls zur Abstimmung motivieren.
Das Votum ist nicht nur ein Sieg für ein einzelnes Lagerhaus, schätzt Experten. Auch bei anderen Unternehmen, etwa Starbucks, werden Rufe nach Arbeitnehmervertretungen und Gewerkschaften immer lauter. Die Strahlkraft der ALU ist aktuell noch nicht abzusehen, hat aber wahrscheinlich das Potenzial, die amerikanische Arbeitswelt auf den Kopf zu stellen – denn der Frust unter Arbeitnehmern im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist groß.
Alleine in den themenbezogenen Diskussionsforen auf Reddit, „Antiarbeit„und“Arbeitsreform„, tummeln sich 2,3 Millionen frustrierte, meist amerikanische Angestellte, die sich natürlich auch riesig über den Sieg der ALU in Staten Island gefreut haben und sich gegenseitig Tipps geben, wie man sich als Belegschaft effektiv zusammenschließen kann.
Quellen: Amazonas, RWDSU, Alu, Twitter [1], Twitter [2], NPR
Quelle: Stern