Stand: 19.03.2022 10:48 Uhr
Bisher gelingt es dem russischen Militär nicht, Kiew zu umzingeln. Doch die Lage an der Front und die Bevölkerung sind angespannt. Aus der belagerten Stadt Mariupol versuchen weiterhin Tausende zu fliehen.
Sie knattere wie ein Maschinengewehr, die Nähmaschine der freiwilligen Helferin in Tscherkassy, berichtet der Sender „Ukraina 24“ aus der zentralukrainischen Stadt am Fluss Dnepr. Die Helferin näht offenbar für den Armeebedarf, andere sortieren Kleidung für Flüchtende oder flechten Tarnnetze.
„Jeder, was er kann“
Eine ältere Frau erzählt: „Sobald man mitbekommt, was gebraucht wird, bringen alle was vorbei. Jeder, was er kann. Wir sind stark, wir werden siegen.“ Wie ein Mantra wird dieser Satz wiederholt, der Zusammenhalt der Menschen im Krieg scheint beispiellos. In der Zentralukraine, wo derzeit keine aktiven Kämpfe stattfinden, versuchen die Zivilisten, so gut es geht, das Militär zu unterstützen.
In der vierten Woche des russischen Angriffskriegs gibt sich dieses weiterhin selbstbewusst. Seit mehreren Tagen melden die ukrainischen Streitkräfte, dass sich die Situation in den Hotspots nicht wesentlich zugunsten der Angreifer verändert habe. Die Frontlage sei jedoch angespannt.
Konfliktparteien als Quelle
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Mariupol weiter umkämpft
Die Lage in der ukrainischen Stadt Mariupol bleibt weiterhin am schwierigsten. Aus der Hafenstadt werden erbitterte Kämpfe gemeldet. Dichte Rauchwolken sind auf Bildern aus Mariupol zu sehen. Sie steigen über einem der wichtigsten Stahlwerke der Ukraine auf. Asowstal gehört einem der einflussreichsten ukrainischen Oligarchen, das Werk galt bisher als einer der größten Stahlhersteller in Europa. Man habe diesen Wirtschaftsriesen verloren, erklärte der Berater des ukrainischen Innenministers Vadim Denisenko.
Das Werk liegt direkt an der Küste des Asowschen Meeres, es wurde nach Angaben der Stadtverwaltung durch Luftangriffe zerstört. Um das Gelände von Asowstal finden weiter Kämpfe statt. Trotz der katastrophalen Lage in Mariupol leisten die ukrainischen Streitkräfte Widerstand und lassen die russischen Truppen nicht in die Stadt eindringen. Diese sollen bisher nur einen Bezirk von Mariupol erobert haben.
Bewohner versuchen die Stadt zu verlassen
Für Zivilisten wurde für heute erneut ein Fluchtkorridor angekündigt. Bewohner versuchen seit mehreren Tagen, Mariupol mit eigenen Autos zu verlassen – verbunden mit dem Risiko, unter Beschuss zu geraten. Satellitenaufnahmen zeigen eine lange Autoschlange an der Ausfahrt aus der Stadt. Die Umzingelung von Mariupol dauert inzwischen seit 19 Tagen an. Die lokalen Behörden gehen davon aus, dass sich bis zu 400.000 Menschen in der Stadt aufhielten, als das russische Militär sie umstellte.
„Aus dem belagerten Mariupol ist es gelungen, mehr als 9000 Menschen in Sicherheit zu bringen“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seinem nächtlichen Briefing. Insgesamt seien durch die Fluchtkorridore mehr als 180.000 Bürger gerettet worden. „Hunderte Tonnen Hilfslieferungen wurden transportiert. Aber die Besatzer blockieren sie weiter, eine bekannte Taktik.“
Zugang zum Asowschen Meer verloren
Im Bezirk Donezk im Osten des Landes habe die Ukraine den Zugang zum Asowschen Meer verloren, heißt es im Bericht des Generalstabs am frühen Samstagmorgen. Die russischen Truppen versuchten weiterhin, Tschernihiw, Charkiw und Sumy zu blockieren. Diese drei Städte gelten als entscheidend, um den Zugang zu Kiew zu erschweren. Der erbitterte Widerstand dort sorgt seit Wochen dafür, dass das russische Militär im Nordosten nicht näher zur Hauptstadt vorrückt. Das verhindert die Umzingelung.
Vorwürfe der russischen Seite
Vorwürfe, lebenswichtige Lieferungen zu blockieren, macht auch die Gegenseite. In Russland berichten die Staatsmedien, dass sich die ukrainische Regierung gegen Lebensmittel- und Medizintransporte der Russen sperre. In der Stadt Dnipro in der Zentralukraine, wo die russische Luftwaffe bereits Angriffe geflogen hatte, würden nun ukrainische Soldaten angeblich sogar Anschläge vorbereiten, erklärte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums Igor Konaschenkow. „Die Mitarbeiter des Ukrainischen Sicherheitsdienstes haben ein Gebäude eines Krankenhauses in Dnipro vermint. Die Sprengung ist für den Zeitpunkt geplant, wenn ein beliebiges russisches Flugzeug über Dnipro fliegt.“
Die Behauptungen scheinen absurd. Immer wieder wirft die russische Seite den Ukrainern vor, was ihr selbst angelastet wird. Dabei geht es vor allem um Zerstörung der Infrastruktur und Wohnhäuser. Also all das, was das Leid der Zivilisten ins Unermessliche steigen lässt.
Mehr als drei Millionen ins Ausland geflüchtet
Seit der Invasion Russlands sind nach Angaben der UN mittlerweile mehr als drei Millionen Menschen aus der Ukraine ins Ausland geflohen. Weitere sechseinhalb Millionen sind im Land auf der Flucht.
Viele, die in der Ukraine bleiben, müssen gegen den schwierigen Alltag ankämpfen. Permanente Angst vor Raketen und Bomben, aber auch ein Überleben in widrigsten Umständen. Nach Angaben des ukrainischen Energieversorgers sind mehr als 800.000 Menschen ohne Strom, mehr als 270.000 ohne Heizung.
Ukraine-Krieg: Aktuelle Lage der Zivilisten und an der Front
Palina Milling, WDR, 19.3.2022 · 07:32 Uhr
Quelle: Tagesschau